Die Kunst der Forschung.

04. Januar 2021

Gedanken zu Kunst und Forschung, beim Lesen von ZEIT DES ZEIGENS: Harald Szeemann, Ausstellungsmacher, von Roman Kurzmeyer.

Harald Szeemann hat die (Kunst-)Werke in seinen Ausstellungen nicht nur gezeigt sondern auch verwendet, um durch ihre Präsenz und Anordnung etwas Größeres auszudrücken. Prominentes und viel zitiertes Beispiel ist die Schau Live in your head: When attitudes become form (works, concepts, processes, situations, information) aus dem Jahr 1969. Die Werke hatten dort nicht nur eine visuelle Dimension, sondern sprachen auch von den Lebensumständen, von Gesellschaft und Politik. In den Kunstwerken vermutete Wünsche und Träume, Obsessionen der Künstler, deren Energiefelder, all das wurde offen gelegt. Szeemann hat mit dieser doppelten Perspektive auf die Werke und die Künstler eine Revolution angezettelt. Während fortan die Rolle der Kunstkritiker immer nebensächlicher wurde, übernahmen im curatorial turn Kuratoren die Deutungshoheit über aktuell entstehende Kunst. Das Medium Wechselausstellung wurde zur neuen Paradedisziplin der Kuratoren. Kunst konnte das eine zeigen und das andere bedeuten – und die Wechselausstelliung konnte beides transportieren: Das einzelne Werk, und den gesellschaftlichen Diskurs, in dem es stand. Doch ist das heute auch noch so, fünfzig Jahre nach Szeemanns Aufschlag?

Als Macher von vorwiegend wissenschaftlichen Ausstellungen, der Kunst nicht nur liebt sondern auch braucht und, ja, benutzt, um Aussagen über Natur-Phänomene, wissenschaftliche Erkenntnisse und neueste Techniken intuitiv verständlich zu machen, sehe ich beim Blick auf Kunst heute ein anderes Bild:

Seit Anbruch des Milleniums bringen Kunstwerke immer öfter ihren Diskurs gleich mit und erscheinen als abstrahierende Illustrationen eines individuellen Forschungsprojektes oder einer wissenschaftlichen Strömung. Das (Kunst-)Werk selbst ist gesprächig geworden und kann uns Aspekte unserer Lebensumstände erklären. Die Bilder, Skulpturen und Installationen reden mit einer eigenen Sprache von globalen Phänomenen oder persönlichen Erfahrungen mit universellem Charakter. Wie ein Blog-Beitrag verfügen sie über Meta-Tags, mit denen sie größeren Zusammenhängen, seien es Gefühle oder Katastrophen, zugeordnet werden können. Und es sind die Künstler selbst, die für die Tags sorgen.

Der in Berlin lebende Künstler Olafur Eliasson und Künstler seiner Schule, Julius von Bismarck etwa und Julian Charrière, verdeutlichen diesen Gedanken. Von der Harmonie natürlicher Formen über die Ingeniosität natürlicher Konstruktionen bis zur Dokumentation des Klimawandels im globalen Massstab reichen die Sujets von Eliassons Projekten. Sie erklären die Vorgänge in der Natur mit den Worten befragter Wissenschaftler, gefiltert durch den Intellekt des Künstlers. Und sie machen sowohl im Ausstellungsraum als auch auf Instagram gute Figur.

Damit ist nicht nur der Kurator herausgefordert, der seither als Sprecher für die (Kunst-)Werke eintrat. Der ihnen Meta-Tags zuschreiben und sie damit gesellschaftlichen Diskussionen zuordnen konnte. Sondern auch das Museum bzw. die Galerie als Ort, an dem die Kuratoren-Erzählung publiziert wurde und an dem sich die zeit- und raumbasierte Botschaft einer Ausstellung festmachte.

Ich verstehe, dass das Gespräch und der Austausch über Aspekte unseres komplexen Zusammenlebens auf dem Planeten mehr denn je zum Gegenstand der Kunst geworden ist. Damit schliesst sich der schon früher gar nicht immer unüberbrückbare Spalt zwischen Kunst und Wissenschaft, oder Kunst und Politik weiter. Künstler erforschen wie Wissenschaftler die Welt und die Bedingungen des Zusammenlebens in ihr – mit anderen Methoden, versteht sich – aber nicht weniger ernsthaft, oder spielerisch, ganz wie man will. Und auch nicht weniger erfolgreich.

Museen und Ausstellungsräume werden in diesem Kontext zu Drehkreuzen des Austausches von Forschungsergebnissen und von Erfahrungen, die man beim Anwenden in der Welt damit macht.

Hinter jedem Kunstwerk steht eine Forschungsfrage. Das Kunstwerk ist nicht mehr die gerahmte Fotografie an der Wand oder die Skulptur am Boden, sondern die Forschungsfrage dahinter. Forschungsfrage, die der Künstler sich stellt, das ist wichtig. Sein auf diese Frage antwortendes Projekt ist das Original, nicht irgendein materialisiertes Fragment aus dem Prozess, das seinen Weg in eine Ausstellung oder ein Museum gefunden hat. Die ausgestellten Fragmente verweisen auf das Ganze.

An dieser Stelle angekommen sind wir so frei wie noch nie, uns auf den Wegen der Kunst wie auf den Wegen der Wissenschaft und der Technik mit unserem Zustand, mit den Antrieben und Folgen unseres Handelns, mit unseren Zielen, und sogar mit dem Lösen von anstehenden Aufgaben, groß und klein, zu beschäftigen. Wir können mit offenem Blick und beherzt das tun, was Harald Szeemann 1969 tat: einen neuen Horizont gewinnen.