29. October 2006
“We must go to Venize!” – ruft aus der Dunkelheit eine Gestalt mit kurzgeschorenen Haaren, die sich mit schwankendem Gang vom Bauzaun entlang des Weges zu Venedigs Parkplatz Tronchetto löst. “Where is a bus? We must go to Venize!” In seiner Stimme liegt etwas Flehentliches. Sein Kollege etwas weiter hinten ruft auch etwas, das aber so stark mit slawischen Flüchen durchsetzt ist, dass ich passen muss beim Verstehen.
Die Architektur ist ein “Handy” | 10. Architekturbiennale Venedig
“We must go to Venize!” – ruft aus der Dunkelheit eine Gestalt mit kurzgeschorenen Haaren, die sich mit schwankendem Gang vom Bauzaun entlang des Weges zu Venedigs Parkplatz Tronchetto löst. “Where is a bus? We must go to Venize!” In seiner Stimme liegt etwas Flehentliches. Sein Kollege etwas weiter hinten ruft auch etwas, das aber so stark mit slawischen Flüchen durchsetzt ist, dass ich passen muss beim Verstehen.
Was müssen diese beiden Bären in Venedig? Autos kann man hier nicht klauen, geht mir durch den Sinn, und sofort schäme ich mich für diesen Gedanken: Die wunderbare Stadt Venedig hat wie eine schöne Frau eine universelle Anziehungskraft. Das reicht.
Dass ich wenige Minuten später im Parkhaus meinerseits laut fluchen werde, weil beim Suchen der Kasse alle meine längst überwunden geglaubten Klischees über italienisches Chaos neu bestätigt werden, weiss ich in diesem Moment der Begegnung mit den beiden grollenden Bären noch nicht.
Dabei hatte der Oktobertag so gut angefangen…
Ein grauer Morgen, über der Lagune von Venedig hängen Wolken und spielen mit der Sonne Versteck. So entsteht hier und da, in der Entfernung am Horizont, ein glitzernder Lichtfleck. Die Stadt ist müde vom mächtigen Sommer. Die Internationale Architekturausstellung an ihrem östlichen Ende, genannt I Giardini, ist ein wenig abgegriffen und heute noch nicht richtig aufgewacht. Sie wird erst in ein paar Stunden munterer, nach Mittag, denn die jungen Leute, die täglich ausgeschickt werden, um sie zu beleben, sind dann wach.
Zeit für ein schnelles Fazit unter uns Blitzbesuchern. Es gibt drei Typen von Beiträgen zur Ausstellung:
Unterirdisch langweilige, das sind alle Länder und Teilnehmer, über die ich im folgenden nicht rede. Zum abschreckenden Beispiel aber doch ein wenig Erklärung: die nordischen Staaten mit ihrem -gähn- Stadt-in-der-Arktis Zeugs, ja, es ist möglich dort oben zu leben, wenn man ganz doll zusammenrückt, aber nicht zu nahe, und wenn man das wenige Licht geschickt hereinlässt. Oder Kanada mit einer arty-farty Installation, bei der von den Gästen mit Fahrrädern ein Film betrieben wird (oder auch nicht), der Wasserflaschen vor Stadthintergründen verschiebt. Oben drüber hängt ein Himmel aus einem grossen Sweat-shirt. Oder nehmen wir noch die Schweiz hinzu, mit einem Senior-Autoren-Beitrag Bernhard Tschumis (1982-85! Paris, Parc de la Villette! Les folies!). Hören wir, was darüber gesagt wird: “Tschumis “Elliptic City” wird in der Dominikanischen Republik den “Independent Financial Center of the Americas” beherbergen, ein internationales Finanz- und Dienstleistungszentrum für 12’000 Personen. Eine Erweiterung auf 30’000 Personen scheint sogar möglich.” Aber nur, wenn alle Banker sich in Ellipsen verwandeln, die in die Ellipsen-Einöde gut hineinpassen. Das harte Urteil: so irrelevant wie die Alpen hoch sind.
Noch ein nutzloser Pavillon: Belgien geht taktisch klug mit einem tiefstapelnden Blick auf die “Schönheit des Alltäglichen” ins Rennen, scheitert dabei aber kläglich am Widerspruch zwischen der gestelzten Präsentation und dem Sujet.
Man muss eben doch (und Gottseidank) irgendein gewisses Niveau von Attraktion erreichen, um Aufmerksamkeit zu erregen in dieser verrückten Welt. Es genügt immer noch nicht, Blumentöpfe mit dem Stroh von gestern in die Ecke zu stellen oder irgendwo ein Laptop anzuschliessen und eine hübsche Studentin danebenzusetzen, oder einen klingenden Namen über die Tür der Mausefalle zu nageln.
Gehen wir weiter, die Zeit läuft. “Nicht-schlecht-gedacht, aber…” ist die nächste Kategorie. Das sind alle Ausstellungsbeiträge, die 12pt Texte verwenden, oder mehr als 200 Fotos auf 2 m2 zeigen. Sind wir in der Klinik? Sind wir vor Gericht oder bei der Kripo? Zu dieser Gruppe gehören auch die, welche hier beharrlich Häusergrundrisse und Organisationsschemen für die postindustrielle Gesellschaft aufpinnen oder über Zonierung, stadträumliche Wirkung und Funktionenmix reden. Das ist da gewesen, vor Jahren, vor Jahrzehnten, das ist gegessen. Das ist auf den Dörfern angekommen und das hallt aus den urbanen Savannen der Tigerstaaten wider. Gemacht hat es sowieso niemand, denn beim Bauen geht es ja um Geld.
Um Zeit zu sparen will ich jetzt von denen reden, die irgendetwas richtig gemacht haben auf der Biennale, und ganz besonders von denen, die wie ich fühlen, dass die Architektur nun ein “Handy” ist.
Konvergenz ist das Schlüsselwort. Verschmelzen. Mein Mobiltelefon kann fotografieren, Musik spielen, mir mit “Billard” (vergib, ehrwürdige Académie de Billard de Clichy, dass sie diesen Begriff dafür gebrauchen) die Zeit vertreiben, es kann Fax, Mail, WAP, Bluetooth und tausend Dinge mehr, die ich kaum je in Anspruch nehmen werde. Es kennt die Telefonnummern, Adressen, Geheimnummern und seltsamen Gewohnheiten all meiner Freunde, Bekannten und Geschäftspartner – und es kann telefonieren. Wunderbare Fähigkeiten verschmelzen in diesem Gegenstand, der nicht nur weiterhin anscheinend nichts kostet sondern der dabei auch immer kleiner wird!
Genauso ist es mit der Architektur.
Die intelligentesten Beiträge der 10. internationalen Architekturausstellung von Venedig zeigen, dass die Architektur ein konvergierendes “Medium” ist. Die Architektur schüttelt hier Ausstellungsdesign und Szenographie aus dem Ärmel, um dort mit wissenschaftlichen Visualisierungen gegenzuhalten. Dreidiemsionale Diagramme zur Besiedelungsdichte unserer Metropolen schlagen mühelos Brücken in die Kunst, und natürlich ist da draussen immer noch der Renaissance-man vom Schlage eines Renzo Piano, der die Welt mit dem bröckelnden 6B aus den Angeln hebt.
Die Architektur macht Werbung, sie legt Geld an, trägt sich wie eine hermelinbesetzte Königsrobe von Dolce & Gabbana, und sie sagt aus der Hand die Zukunft voraus. Sie schreibt Bücher über die Naturwissenschaften und Soziologie und sie programmiert einen Gameboy für die Kleinen. So mächtig ist dieses Werkzeug. Und so in Auflösung begriffen.
Wie kommt man darauf?
Im Pavillon der USA läuft ein Soundtrack vom Eintreffen des Hurrikan Katrina in New Orleans. Hören, wie eine Stadt untergeht. Stark. Der Teil mit der Wiederauferstehung der Stadt, auf Dutzenden Papptafeln und in Modellen, ist weniger stringent.
Im französischen Pavillon riecht es nach Knoblauch und angebratenen Schalotten. Es geht zu wie im Maschinenraum von Beuys Honigpumpe auf der Dokumenta 6 in Kassel, 1977, nur ist alles mit Kat 5 und nicht mit Gartenschläuchen verkabelt. Eine mehrstöckige Küche trennt den Arbeitsraum vom Schlafsaal. Im Schlafsaal, eher Schlafregal, werden hinter semitransparenten Vorhängen, die mit appetitlichen Körper-Nahaufnahmen bedruckt sind und die im Zwiebel- und Körperdunst sanft schwingen, geschickt alle Klischees von der liberté toujours bis zur amour fou ausgebreitet, vor den Augen sich schamhaft abwendender Besucher aus dem mittleren bis fernen Osten. Clash of civilisations, in Echtzeit und 3D.
Ein Projekt, das Deutschland gerne gemacht hätte, sich aber nicht zu machen traute. Stattdessen dort unter weissen Mülltonnendeckeln die Projekte vieler junger und auch weniger junger Architekten.
“Beim Betreten des Deutschen Pavillons erlebt der Besucher diesen anhand von großformatigen Abbildungen als Schauplatz städtischer Vitalität und architektonischer Vielfalt. Stadt ist als inspirierendes Feld von Möglichkeiten inszeniert. Im Kontrast zur Belebtheit der Haupthalle, bieten die Seitenflügel eine ruhige und einladende Atmosphäre zur konzentrierten Beschäftigung mit den ausgewählten Projekten.”
Liebe Leute, das stimmt einfach nicht. Das hättet ihr euch so gewünscht. Was ist an einer Reihe von Urnengräbern einladend, auch wenn sie hübsch weiss herausgeputzt sind? Der mit viel Aufwand installierte Weg aufs Dach des deutschen Pavillons ist gefahrlos zu erklimmen. Oben ist nichts, nicht mal ein Blick. Da haben sich die Feuilletons grosser Tageszeitungen mal geirrt. Schnell wieder runter. Dieser Pavillon hat hier nichts zu suchen, er muss zurück in die Verlierergruppe!
Auch auf den französischen Pavillon kann man übrigens klettern, allerdings mit Helm. Der Andrang ist eher gering. Liegt vielleicht daran, dass es nicht jedermanns Sache ist, dezent nach Knoblauch riechende Weltverbesserer bei der virtuellen Paarung am Mac zu überraschen.
Ungarn hingegen: Uneingeschränktes Ja. Witzig, kurz, prägnant, ohne Text, mit Bluetooth, über China. Freie Phantasie darüber, wie die karnickelhafte Geschäftstätigkeit der Chinesen und ihr angeborenes Kopier-Gen die Domänen des Städtebaues und der Architektur verändern wird. Die Multiplikation von ähnlichen Objekten, und die überraschende Präsentation machen den ungarischen Pavillon zu einem meiner Favoriten. Zudem lässt er sich mit vier Blicken erschliessen. Das ist Mut zur Lücke – denn über was hätte man nicht alles schwafeln können!
Weniger gut kommt Dänemark weg, das als zweite Nation China covert. Mit einer Serie von Plakaten, die bewusst im “geschmacklosen” chinesischen Stil gehalten sind (zu grosse Schrift, zu grelle Farben, zu falsch angeschnitten), und die eine Rechnung aufmachen, die eines Rem Kolhaas und seiner OMA würdig gewesen wäre: Wissenswertes über China, graphisch aufbereitet von Graf Dracula.
Oft ist das Original besser als jede Cover-Version. Hier auch. Weit weg, am hintersten Ende des Arsenale, dort wo die Republik Venedig einmal ihre Schiffe ausrüstete um unter anderem auch China in Staub und Asche zu ver-handeln, steht ein riesiges, über seine Diagonale geneigtes rechteckiges Tonziegeldach und spendet dem Nichts Schatten. Während der erste Blick bei der Annäherung die Konstruktion aus Bambusstäben von hinten zeigt, ist der zweite, frontale Anblick ein Landschaftspanorama, Portrait tausender kleiner Ziegel, sanft geschwungen und nur von einem Steg unterbrochen, auf dem sich der Betrachter zum Protagonisten machen kann, wenn er denn will. Merken Sie sich die Namen Wang Shu (Architekt), Xu Jiang (Artist) und Wang Minxian (Pavilion Curator)!
Es stimmt einfach alles: China, der ehemals schlafende Riese, postiert sich entspannt ganz am hintersten Rand der Veranstaltung, lässt im Vorfeld den Anderen freien Lauf für ihre Spekulationen über seine mannigfaltigen Herausforderungen, seine Fähigkeit zur Verwaltung des Wachstums, alles eifrigst knallbunt ge-layoutet und säuberlich übersetzt in diese fremden Schriftzeichen, und mit Zahlen garniert – und baut dann einfach ein Stück traditionelles Dach auf. Aber ein Dach, das es in sich hat. Ein Dach wie eine Watsche, ein Dach wie ein atomgetriebener Flugzeugträger, oder wie ein zwölffach-Klon aus einer einzigen Eizelle. Alles was ihr wisst über die Weltherrschaft der Chinesen ist wahr, ausser eines: sie kommt noch schneller!
Russland hingegen, der schlafende, weil manchmal betrunkene Bär: Der schlägt sich prima, weil er die Show nicht mit dem Ernst verwechselt. Hier in Venedig ist Show! Ein wenig Tarkowskij, ein wenig Gulag, ein wenig “Und ewig grüsst das Murmeltier” und ein wenig Honigpumpe (schon wieder – dieser Tausendsassa Beuys!) und fertig ist das beklemmende Klischee einer Schlafstadt unter einer schmutzigen Aurora Borealis, als begehbares Bühnenbild. Jeder von uns kennt dieses Bild, die Mietskaserne ad infinitum, mit ihrem Zoo an Schicksalen hinter – in diesem Fall russischen – Gardinen.
Philip Oswalt, der Ex-Herausgeber einer Architekturzeitschrift namens arch+, über deren grundsätzlich schwarzweissen und kleingedruckten Seiten früher das Frühstücksei aus Soziologenbärten baumelte, zieht seit zwei Jahren mit einem Wanderzirkus namens Shrinking cities über die Dörfer. Auch er macht Halt in Venedig, im italienischen Pavillon, legt routiniert seine Palette mit dem frischgedruckten Shrinking City Herald aus und wartet auf Kunden im frühen Morgenlicht. Sein Verdienst: die Bürgermeister von Halle, Schwerin oder Detroit müssen sich nicht mehr als Versager fühlen, weil ihre Städte sich entleeren. “Special Info” auf der letzten Seite: VENICE: A SHRINKING CITY. Da hat Deutschland als Exportweltweister sein Warensegment um ein weltweit nachgefragtes Produkt mit einigem Potenzial erweitert.
Meister der Konvergenz (die Architektur ist ein “Handy”, zur Erinnerung) ist der holländische Architekt Rem Kolhaas. Er war schon in China und hat dort festgestellt, dass die Chinesen ihn gar nicht kopieren wollen. Also hat er sich in einem der Verliesse des labyrinthischen italienischen Pavillons ein 360 Grad Panorama der Golfregion an die Wand gehängt und mit Dartpfeilen ebenso wahllos auf den Strand gezielt wie die Ölscheichs Palmen, Krokodile oder Kamele in Form von künstlichen Atollen oder 72 stöckigen Harem-Landschaften aus 1001 Nacht in ihre Ödnis bauen liessen.
Kolhaas schlägt vor, diesen bizarren Surf am Rande des Baubaren als getreues Abbild der Stadt der Zukunft anzusehen. In Wirklichkeit will er den Wüstensöhnen natürlich seine nutzlos herumliegenden Bau-Patente andrehen.
An dieser Stelle ist das innerste Innere des italienischen Pavillons erreicht, Kolhaas in einer Sackgasse, der Pfeil wird zum Ziel und der Weg zum Pfeil, und es muss zurück gehen, wer vorwärts kommen will, entlang der 25 000 Almhütten und Bahnwärterhäuschen, die fleissige ETH Studenten aus Zürich fotografiert haben und vorbei an Philip Oswalts Zeitungskiosk.
Die “Corderie dell’Arsenale” aus dem 17. Jahrhundert sind ein beeindruckender Baukomplex: Sie umschliessen einen 300 Meter langen und schnurgeraden Raum, der sich alle 30 Meter verengt. Alles musste genau so sein, weil eben hier die langen Seile und Taue für die venezianische Flotte geflochten wurden.
Das Missverständnis der Ausstellungsmacher unserer Tage besteht darin, dass sie hier, wie ein ehrgeiziges Turnierpferd vor dem dreifachen Oxer, zum Sprung ansetzen und regelmässig einen Drittelskilometer Information ausstellen. Hat sich denn noch niemand überlegt, warum die in neutralem grellrot gehaltenen Abschnitte dieses Parcours, in dem die Kaffemarke illy ihren Espresso verschenkt, so überlaufen sind?
Der Blitzbesucher hingegen, das ist sein Vorrecht, durchschreitet die Corderie wippenden Fusses, er läuft über die Stadtpläne von New York, Berlin, Turin, Mumbay, Caracas, Sao Paulo und Johannesburg hinweg und freut sich auf die Fahrt im Vaporetto über die dämmernde Lagune hinüber zum Lido. Für ihn ist Venedig, Stadt nach menschlichem Mass, ohne ein einziges Auto, voller Phantasie und Tricks zum Überleben, immer noch die prototypische Stadt der Zukunft.
Was müssen diese beiden Bären in Venedig? Autos kann man hier nicht klauen, geht mir durch den Sinn, und sofort schäme ich mich für diesen Gedanken: Die wunderbare Stadt Venedig hat wie eine schöne Frau eine universelle Anziehungskraft. Das reicht.
Dass ich wenige Minuten später im Parkhaus meinerseits laut fluchen werde, weil beim Suchen der Kasse alle meine längst überwunden geglaubten Klischees über italienisches Chaos neu bestätigt werden, weiss ich in diesem Moment der Begegnung mit den beiden grollenden Bären noch nicht.
Dabei hatte der Oktobertag so gut angefangen…