Geschwindigkeit und die Künste | John, Paul, Peter, Jürgen und Daniel im ZKM am 3. November 2006

7. November 2006

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen… ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.

(Aus dem 1909 publizierten ersten futuristischen Manifest des italienischen Dichters Filippo Tommaso Marinetti)

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Wiedereintauchen in die Dromologie: PAUL VIRILIO UND DIE KÜNSTE

Kunst zerlegt die Welt

Die italienischen Futuristen haben damit begonnen, schnelle Bewegung nicht nur in Worte, sondern auch in Bilder zu übersetzen.
Parallel kommt die Geschwindigkeit bei den französischen Impressionisten ins Bild: Claude Monet malt 1926 eine dampfschnaubende Lok bei der Einfahrt in den Bahnhof St. Lazare, im flimmerigen Licht eines Sommertages in Paris. Kein Wunder. Die Bewegungen der ersten Züge in der Landschaft, der ersten Autos, die über Staubstrassen kurvten, waren so anders als das, was man in der 1-PS-Welt bis dahin gewohnt war, dass sich sensible Menschen (z.B. Künstler) zu Recht fragten: Wie stelle ich dar, was meine Augen gerade sehen? – oder gesehen haben, denn viel Zeit steht für die direkte Umsetzung einer Wahrnehmung seither nicht mehr zur Verfügung.

Es kam alles gleichzeitig: neue Verkehrsmittel, neue Medien (Photo, dann Film), und neue Produktionsweisen, “industrielle”, in denen alles, was zu beschleunigen war, von Maschinen erledigt wurde. Sie standen der Monotonie ihrer Tätigkeit gleichgültig gegenüber.

Die Zeit der bruchstückhaften Wahrnehmung beginnt. Jürgen Ploogs Erinnerungsfetzen aus einer 33 jährigen Pilotenkarriere sind Versuche, eine Existenz in Bruchstücken, während derer sich Aufenthalte in der Luft mit Aufenthalten in absurd weit voneinander entfernten Orten auf dem Erdboden abwechseln, mit Hilfe der Literatur zu einem “echten Leben” zu formen. Es ist bewegend, wie er um dieses vermeintlich simple Gut ringt.

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Iconic Turn – Turnen mit Bildern

Verwischte Bilder entstehen auch technisch, ausserhalb der Malerei. Zunächst als Unfall, weil die Belichtungszeiten unmenschlich lang sind, dann als Stilmittel in der (Sport)fotografie – wenn man die Kamera mitzieht, um sich an die Geschwindigkeit des fotografierten Gegenstandes anzuhängen. Schliesslich, in den 90ern, wird das unscharfe, das verwischte, das verzerrte und lichtfleckige Bild mit Hilfe einer kleinen russischen Kamera zur legitimen Perspektive auf die Realität. Mit der Lomo akzeptiert man intuitiv, dass die Welt nicht drei- oder vierdimensional ist, sondern dass sie so viele Dimensionen bereithält, wie wir bereit sind zuzulassen. Seither kann man sich dank blogging, myspace, youtube in Hunderttausende persönlicher Bilderwelten und Weltsichten verwickeln. Die Aufmerksamkeit kristallisiert sich als letzte Grenze, teuerste Ressource (weil knappstes Gut), heraus.
Diese Beobachtung deckt sich nicht zufällig mit den Erkenntnissen der Physik, die ohne unzählige eingerollte und in unsere Realität wie unsichtbare Schmetterlinge eingebettete Spezial-Dimensionen nicht mehr auskäme.

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Das Ende der Geschwindigkeit?
Geschwindigkeit war immer Mittel zu Macht. Sie ist der Treibstoff und die Ressource aller Kriege, die in der modernen Zeit geführt wurden.
Aber die Kriege sind auch nicht mehr das, was sie waren. Sie werden zu nicht erklärten, starren und gleichzeitig immer willkürlicher erscheinenden Konfrontationen.
Als Wettlauf der Wirtschafts- und Produktions-Systeme können sie durchaus Wohlstand und Fortschritt generieren, wie das etwas hastig abgehakte Beispiel des Kalten Krieges zeigt, der 1989 mit dem Fall der Mauer sein Ende nahm. Auch wenn der Frieden in dieser 45 jährigen Periode mehrmals am seidenen Faden hing, verhinderte das Bewusstsein von der Existenz eines über alle bisherigen Erfahrungen gesteigerten Vernichtungspotenzials und vor allen Dingen von seiner unglaublichen zeitlichen Nähe (die Atombombe war quasi “unter uns”) das Schlimmste.

Die Geschwindigkeit unserer Kommunikation, unserer Fortbewegung und auch des Wandels unserer Stimmungen (Wirtschaftsbarometer, Börse) erzeugt seit einiger Zeit das Gegenteil: Langsamkeit. Zumindest Sehnsucht nach Langsamkeit.

“Slow Food”, “Simplify…”, wuchernde Tempo 30 Zonen, Wellness und nicht zuletzt die ersatzlose Ausmusterung des schnellsten Massen-Transportmittels unserer Zeit (die Concorde wurde 2004 ausser Dienst gestellt) sprechen eine klare Sprache für den, der ein offenes Ohr und sehende Augen hat.

Das Gegenteil von Geschwindigkeit ist ein dunkler, verwirrender Pol. Es ist nicht das Bremsen, wie manche vorschlagen, sondern Stillstand, pur et dur. Ein unsexy Reiseziel? Das subversivste Anzweifeln von Macht, das sich denken lässt? Nordkorea? Frieden auf Erden?

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Illustrationen: “Rasender Stillstand” in der Handschrift von Paul Virilio; Moto-Fotos von der Eröffnung der Ausstellung PAUL VIRILIO UND DIE KÜNSTE am 3. November 2006 am ZKM in Karlsruhe. Als erstes Jürgen Ploog, kurz nach dem Lift-Off zu seiner Lesung; dann ein Wahrnehmungssplitter aus der Ausstellung; hier oben die Nase von Claude Parent, PVs Partner in “architecture principe”.
Und unten ein Schnappschuss aus einem Video der Ausstellung, die PV bei der Entgegennahme des Medienpreises Karlsruhe zeigt, zehn Jahre her…

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