Mehr Eigenblutdoping! | Scenographers’ Festival IN3 in Basel 23.-26.11.2006

26. November 2006

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In der schönen Stadt Basel geht heute das erste SCENOGRAPHERS’ FESTIVAL zu Ende. Ausgerichtet hat es das Institut für Innenarchitektur und Szenographie an der Fachhochschule der Nordwestschweiz – und wenn man Namen einsetzen will, was immer gut tut, weil es den Dingen ein Gesicht gibt, dann stehen Uwe R. Brückner und Andreas Wenger für diese Premiere.
Der Blitzbesucher (Blitzbesuche sind die aus unserer Sicht objektivste Methode, sich Rechenschaft über Form und Inhalt, Erlebnis und Fiktion einer Sache zu geben) konstatiert drei Dinge:

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1. Basel ist eine ungewöhnliche Stadt: eine Puppenstube im Realbetrieb, mit echtem Geld (viel echtem Geld!), einem etwas unterdurchschnittlichen Tempo (ausser bei den Strafzetteln für Falschparken, das geht fix), von einem bunten kosmopoliten freundlichen Völkchen bewohnt. Anregend. Wiederkommen.

2. Die Szenographie, zumindest in ihrer künstlerischen Spielart, hat sich eine Stimme gegeben und ein Forum. Warum erst jetzt? Müssig, das zu ergründen. Was bringts? Ähnlich wie beim Eigenblutdoping wird die “Performance” ansteigen. Ganz legal. Diese Prognose wäre in zwei Jahren zu überprüfen, anlässlich der IN6 (oder wie heisst die zweite Ausgabe einer Veranstaltung, deren Premiere IN3 genannt wurde?)

3. China kommt noch schneller in die Gänge, als wir es bisher schon ahnten, z.B. anlässlich der Architekturbiennale in Venedig 2006.

Siegfried Wu’s revolutionäre Botschaften

Beginnen wir mit der Sensation, denn wir haben nicht ewig Zeit. Siegfried Wu erinnert an Kim Jong Il, den charismatischen Vorsteher eines dunklen Landes weit weg in Asien, das sich erst vor kurzem mit sehr effizienten Methoden der Energieerzeugung etwas übereifrig in die Schlagzeilen der Welt gebracht hat.

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Aber natürlich ist dieser Eindruck von Siegfried Wu falsch. Wir sind unter Szenographen! Der Masterplaner der Expo 2010 in Shanghai und Dekan der Tongij Universität trägt eine rote Jacke, bringt das definitiv kleinste Laptop aller Vortragenden mit aufs Rednerpult der Elisabethenkirche (ja, Kirche: wir sind unter Szenographen!) und sorgt für das erste kollektive Kinnlade-nach-unten-klappen, als er aus dem Chi-nglisch, dessen silbenverschluckendes Idiom inzwischen weltweit gängige Münze ist, in silbenverschluckendes Chn-eutsch überwechselt. 110% Aufmerksamkeit! Es knistert. Und zu recht: Was in der nächsten Stunde folgen wird und in einer Videoanimation der Shanghai Expo 2010, untermalt mit konsequent weiter-komponierten Wagnerklängen gipfelt, ist alles andere als trivial.

Siegfried Wu’s Botschaft ist revolutionär unter zweierlei Gesichtspunkten:

1. China nimmt sich der Probleme der Welt an.

2. Es wird sie lösen. Und zwar ziemlich fix. Denn…

…weil nächstes Jahr mehr als 50% der Weltbevölkerung in Städten leben werden, ist die (Gross-)Stadt, die City das Thema der Expo 2010. Weil die Aufteilung der City in einzelne Sparten (Charta von Athen 1933) und die Annahme der “Stadt als Organismus” in den Siebzigern nicht mehr viel hergeben an Deutungs- und Energiemobilisierungspotenzial, wird Shanghai die CITY AS A LIFE zelebrieren. Das Synonym dafür lautet (charmantes Chinglish): “City Being”.

Wu schaut dabei einerseits zurück auf 8000 Jahre Urbanisierung und münzt andererseits einen neuen Begriff, der in seiner rätselhaften Einprägsamkeit fast an adidas’ IMPOSSIBLE IS NOTHING heranreicht. Und darin liegt die Sprengkraft der Idee:

– Öffne die Diskussion, und zwar schnell

– halte dich nicht auf mit der Fortentwicklung bestehender Parameter, unter denen Städte beleuchtet, analysiert und weitergebaut werden, sondern baue flugs die ganze Plattform neu, von der aus das Beleuchten, Analysieren und Weiterplanen der Städte stattfindet.

– Schaffe eine neue Perspektive. Lade dazu ein, dorthin mitzukommen. Und wer zu spät kommt…

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Rainbows over heritage

Alles weitere ergibt sich wie von selbst: Wu’s Stadt 2010 liegt in zwei Kraftfeldern. Eines heisst FUTURE & DREAMS, das andere CIVILIZATION & HERITAGE. Heritage! Schon allein die Wahl dieses Begriffes zeigt, wie klug das Konzept angelegt ist: Denn, Hand aufs Herz, schreiben sich nicht in diesem Moment alle Journalisten dieser Welt die Finger wund darüber, wie sorglos, nein verantwortungslos, in China mit dem (gebauten) Erbe umgegangen wird? Das erste Kraftwerk Shanghais wird gerade umgebaut zu einem, tja nennen wirs Infozentrum Energie. Selbstverständlich historisch korrekt.

Und spätestens wenn Siegfried Wu (nicht ohne einen Anflug von Stolz im erhitzten Gesicht), per Computeranimation die “Rainbows”, aus Nationalfarben komponierte flugzeugträgergrosse Leitbänder, über die Expo-Stadt legt, ahnt der Blitzbesucher, dass auch Träume für die Macher der Shanghai Expo keine Schäume sind, sondern erstrebenswerte, denk-, rechen-, mach- und fühlbare Realität.

Und so kippt an diesem denkwürdigen Abend in der Elisabethenkirche in Basel ein Dominostein nach dem anderen, immer in die unerwartete Richtung: Wie kann man in einer Welt, in der die (technischen) Innovationen nicht mehr wie zur Entstehungszeit der Expos alle 5 Jahre einem breiten Publikum vorgestellt werden, sondern alle 5 Minuten, oder quasi in Echtzeit, sofort, jetzt, hier, auf diesem Bildschirm – wie kann man das Konzept Expo, das seit der Expo ’70 in Osaka mit 64 Millionen Besuchern (die folgende Weltausstellung, Sevilla, zog noch 16 Millionen an!) unter massivem Desinteresse leidet, erneuern?

Indem man es revolutioniert. Das kleine Laptop von Herrn Wu projiziert drei Begriffe an die Wand, “Technology”, “Spectacle” und “Technology exhibition”. Alle drei sind durchgestrichen. Gegenüber stehen neue Begriffe: “Concept”“Celebration” und “Operations support”. Und spätestens jetzt begreift man, dass sich chinesisches Denken der Sache Expo gründlich angenommen hat und einen (Turn-)Schuh daraus machen wird.

Globale Arbeitsteilung

“Make it more colourful” soll ein chinesischer Kunde freundlich, aber bestimmt, zu einem deutschen Lieferanten für eine Ausstellung in China gesagt haben. Es wurde more colourful, und es wurde gut. Warum auch nicht? Warum sollten wir im Westen uns nach 200 Jahren Bannertragen für technischen und kulturellen Fortschritt nicht mal zurücklehnen und den Staffelstab zurück in den Osten geben? Da ist jemand, hat der Blitzbesucher das Gefühl, der jetzt bereit ist zu übernehmen, der schon übernommen hat, und der nicht nur die Lösung des Problems zurückgehender Expo-Besucherzahlen (das ist eines der kleineren), sondern auch echte Klopper wie “Sustainable Development” oder “Gute Unterhaltung” in globaler Arbeitsteilung federführend angeht.

Unsere Rolle? Aufmerksam assistieren. Das Spiel beobachten und im Training bleiben, um den Ball eines Tages inspiriert wieder zurückspielen zu können.

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