das Venezia Projekt

Ein Forschungsprojekt zur Anwendung eines auf Elektrolyse im salzigen Meerwasser beruhenden Bau-Verfahrens in der Stadt Venedig. September 1986 bis November 1986.

Nach Vorarbeiten im LAB F AC Stuttgart, an denen auch Finn Geipel und Arnold Walz beteiligt waren, eröffneten der Physiker Jörg Moldenhauer und die beiden Architekturstudenten Bernd Hoge und Jochen Hunger im September 1986 auf der Mole der Compagnia della Vela gegenüber von San Marco in Venedig die erste Elektrolysebaustelle in der Lagunenstadt. Zweieinhalb Monate lang waren Probekörper aus Drahtgeflecht schwachen elektrischen Strömen ausgesetzt. Bei Versuchen von Wolf Hilbertz im Golf von Mexiko hatte sich in den 1970er Jahren herausgestellt, dass mit diesem Verfahren zehn bis 20 Millimeter starke mineralische Ablagerungen auf Drahtkörpern entstehen, die mit Mikroorganismen „verbacken“ werden und zu einem neuen, quasi „natürlich gewachsenen“ Baumaterial führen. Dieses Material ist sehr fest. Hilbertz hatte unter anderem angeregt, Hafenanlagen aus Stahlbeton zu sanieren und Küstengebiete mit diesem Verfahren vor Erosion zu schützen. Heute gewinnt die Anwendung neue Aktualität, wenn es um künstliche Riffe geht.

Da der Hilbertz-Kontakt über das IL (Institut für leichte Flächentragwerke) des Leichtbaupioniers und Wissenschafts-Kommunikators Frei Otto in Stuttgart-Vaihingen zustande kam, lag es nahe, sich von dort Unterstützung zu verschaffen. Das gelang in Form eines kurzen Empfehlungsschreibens. Eine Video-8 Kamera von Sony, heisseste neue Technik, war als Dokumentationswerkzeug vom Kulturamt der Stadt Stuttgart bezuschusst worden. Ansonsten waren Bordmittel angesagt.

Die Elektrolysebaustelle bestand aus zwei Metall-Auslegern, an denen Probekörper permanent abgehängt und vollständig dem Wasser der Lagune ausgesetzt waren. In der Mitte der röhrenförmigen Probekörper (H ca. 800 mm, D ca 400 mm) waren Graphit-Elektroden positioniert, über die ein schwaches elektrisches Feld hergestellt wurde. Ein Solarpanel, vom Fraunhofer Institut für solare Energiesysteme in Freiburg / Br. zur Verfügung gestellt, versorgte die Baustelle mit dem erforderlichen Gleichstrom.

Während die Baustelle weitgehend sich selbst überlassen bleiben konnte (regelmässige Spannungsmessungen und Sichtkontrollen fanden in der Regel am Vormittag statt), nutzten Moldenhauer, Hoge und Hunger die Tage, um in der Stadt, sowie in interessierten Kreisen ausserhalb auf den Versuch und sein Potenzial aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck entstand der „Katalog der Konstruktionen“, eine Sammlung von möglichen Anwendungen des Elektrolysebauens in der Architektur und im konstruktiven Ingenieurbau.

Es gab enge Kontakte zu Cnr (Consorzio nazionale della ricerca) und freundschaftliches Interesse der Bevölkerung. Im baretto (der kleinen Bar) „due Draghi“ von Giovanni Baldini und seinem Freund Carlo, am nördlichen Ausgang des Campo San Margherita, befand sich die öffentliche homebase. Hier fand am zwanzigsten Jahrestag der grande alluvione (Rekord-Hochwasser vom 4. November 1966) eine Veranstaltung statt, mit vielen Künstlern und einem illuminierten Modell der Elektrolysebaustelle in einem riesigen Einweckglas..

Bei der Bergung der Probekörper Ende November wurden die Messreihen, die von Hand auf kariertes Papier eingetragen waren, von einem Windstoß erfasst und ins Wasser der Lagune getrieben, wo sie nicht mehr zu retten waren. Die Probekörper selbst zeigten Ablagerungen, die aber keineswegs so massiv und fest waren wie die Probestücke aus dem Golf von Mexiko. Dies ist auf die geringe Salinität (Salzgehalt) des Lagunenwassers zurückzuführen, und auf seine vergleichsweise starke Verunreinigung. Wie viele Bio-Prozesse, lässt sich auch das Elektrolyse-Bauen nicht an beliebige Orte verpflanzen, es hat eigene Bedingungen.

Der Katalog der Konstruktionen wurde im Rahmen der Diplomarbeit von Bernd Hoge und Jochen Hunger im Frühjahr 1987 an der Universität Stuttgart vorgestellt.

Im Herbst 2019 wird Venedig vom zweithöchsten Hochwasser seiner Geschichte getroffen. Die milliardenschwere Massnahme MOSE, versenkbare Flut-Tore an den Öffnungen der Lagune zum adriatischen Meer hin, ist nur bedingt funktionstüchtig und wartet weiterhin auf ihre Vollendung. Als das Venezia Projekt begann war sie bereits drei Jahre am Horizont gewesen.

„Die Art von Problemen, mit denen Planer zu tun haben – gesellschaftliche Probleme – sind von Natur aus verschieden von den Problemen, mit denen sich Wissenschaftler, und vielleicht einige Ingenieurgruppen beschäftigen. Planungsprobleme sind inhärent bösartig“. Das schreibt einer meiner Lehrer, der Planungs-Theoretiker Horst W. J. Rittel 1969. Bösartig sind sie, „da sie den Bemühungen trotzen, ihre Grenzen abzustecken und ihre Ursachen auszumachen und so ihre Natur zu offenbaren“.